Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Berlin 2023: edition ost. 446 S., € 26.-

Egon Krenz, der letzte, nur noch kurzzeitige, SED-Generalsekretär hat den Band II seiner Memoiren veröffentlicht. Er behandelt die Jahre von 1976 bis 1988, also den Zeitraum vom Aufstieg des FDJ-Chefs, im Volk gern den „Berufsjugendlichen“ zugeordnet, unter die Kandidaten des SED-Politbüros bis zu jenem Jahr, in dem Honecker nach seinem erfolgreichen Staatsbesuch in der Alt-Bundesrepublik die weithin im Lande erwartete Übergabe der Macht an seinen präsumptiven Nachfolger Krenz ausfallen lässt.

Bis zu diesen Memoiren war mir Krenz vor allem in Erinnerung geblieben als Politiker mit vor Fernseh-Kameras reichlich dargebotenem Lächeln, als Hauptverantwortlicher für die gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989, als Verteidiger des Massakers auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ vom Juni 1989 in Peking, als auffällig konzeptionsloser Nachfolger von Honecker an der Spitze von SED und ihrem Staat DDR. Zudem meinte ich. dass Krenz der Spitzenfunktionär der SED war, der am kürzesten für die Mauer Verantwortung trug, aber am längsten für die Schüsse an diesem Bauwerk „sitzen“ musste.

Das Buch ist zum Spiegel-Bestseller geworden. Und dies nach meiner Meinung zu Recht: Krenz liefert Informationen, die sich in keinem Archiv finden, und er bietet Wissen um Ereignisse, bei denen er der letzte lebende Dabeigewesene ist.

Wie alle vergleichbaren Texte ehemaliger DDR-Größen ist auch dieser Band zuerst der Versuch einer Rechtfertigung für früheres Tun oder Nicht-Tun. Und da besitzt Krenz gegenüber ähnlichen Autobiografen einen ungemeinen Vorteil: Ehemalige Genossen der SED-Führungsebene können sich gegen sein Urteil bzw. seine mitunter Verurteilung nicht mehr wehren. Meines Wissens sind inzwischen alle anderen Langlebigen aus der Honeckerschen obersten Parteiführung der SED weggestorben. Allerdings existieren noch Angehörige der ehedem zweiten Reihe. Und so hat Krenz‘ Nachfolger als FDJ-Oberer (seinerzeit in Funktionärskreisen bespöttelt: „Ihr Fans/von Krenz/seid nicht traurig:/ Jetzt habt ihr Aurich“) in einer „nd“-Nummer in diesem Frühjahr moniert, dass Krenz zwar ausführlich über sein Verhältnis zu Honecker im genannten Zeitraum berichte, an anderen Orten aber auffällige Leerstellen verfasst habe.

Vor allem dreierlei Beziehungen werden von Krenz in seinem Buch abgehandelt:

  • die eigenen zu seinem Förderer und Chef Honecker
  • die zwischen der SED-Führung, also vorrangig Honecker, und den sowjetischen Führern im genannten Zeitraum
  • die zwischen der DDR, also wiederum vor allem Honecker, und bundesdeutschen Politikspitzen, ebenfalls im aufgeführten Zeitraum.

Dazu kommen Reflexionen über die Ursachen des Endes der DDR.

Während Stasi-Chef Mielke das neue Mitglied der Parteiführung anfangs nicht allzu ernst nimmt, ihm nur einen einzelnen persönlichen Bewacher zuteilt und ihn auch in seiner Plattenbau-Wohnung im Köpenicker Allende-Viertel wohnen lässt, also mitten unter ziemlich normalem Volk, holt Honecker selbst seinen jungen Mann 1980 in die Politbüro-Heimstatt Wandlitz. Als Krenz dort 1983 Honecker darum bittet, sein Jugendfunktionärsdasein beenden zu dürfen, macht der Krenz bald darauf zum Vollmitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees, nicht wenig später auch zum Stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden. Krenz wird so in westdeutschen Medien und bei interessierten DDR-Bürgern nach dem 1978 in Libyen in einem Hubschrauber vom Himmel gefallenen Lamberz der zweite potentielle Kandidat für eine eventuelle Honecker-Nachfolge.

In der neuen Position bekommt Krenz auch kompliziertere Sonderaufgaben übertragen und dafür Informationen, die Honecker ansonsten gern an der Politbüro-Mehrheit vorbeilenkt. Vor allem im Umgang mit sowjetischen Spitzenfunktionären besitzt Krenz gegenüber dem Gros des Politbüros  einen Vorteil: Er versteht und spricht Russisch. Im Laufe der Jahre verschlechtert sich das Verhältnis zwischen Honecker und Krenz. Krenz hält ein gutes Verhältnis zur Sowjetunion für wesentlich für die Existenz der DDR. Amüsant für Leser wie mich ist, wie schnell sich Funktionäre der zweiten Reihe Krenz nähern. Sie wollen offenbar bei einem potentiellen Machtübergang an Krenz auch zu dessen Mannschaft gehören. Als Schalck, einer der neuen Freunde, als erster Krenz über die Krebs-Erkrankung von Honecker informiert, tut er dies nicht mündlich, sondern per Zettel. Schalck ist sich also sicher, dass auch Krenz‘ Arbeitszimmer im ZK-Gebäude abgehört wird.

Als ZK-Sekretär war Krenz auch verantwortlich für den Bereich für Sicherheitsfragen im ZK-Apparat. Nach Krenz waren ihm damit allerdings „operative Aufgaben der Sicherheit der DDR nicht übertragen“ worden (S. 165). Etwas im Widerspruch zu Krenz scheint da eine Äußerung von Gemneraloberst Großmann zu stehen, dem letzten Chef der DDR-Aufklärung. Großmann: „Generaloberst Mittig, …, erwähnte mir gegenüber, dass Egon Krenz fast täglich bei ihm anrufe und etwas wissen wolle.“ (Werner Großmann mit Peter Böhm: Der Überzeugungstäter. edition ost, 2017, S. 186)

In der neuen Funktion stößt Krenz auf ihm – auf jeden Fall in ihrem Ausmaß – vordem nicht bekannte unterschiedliche Interessenlagen in der sowjetischen und der DDR-Führung. So hatte die sowjetische Führung einerseits den deutschen Kommunisten und deren innenpolitischen Verbündeten 1949 den neu gegründeten deutschen Teilstaat DDR übergeben und ihn 1953 und 1961 auch in seiner Existenz bewahrt, andererseits regierte sie der DDR-Führung immer wieder – und zum Teil ziemlich rüde – in deren Politik hinein.

Zugespitzt kann man sagen, dass alle sowjetischen Führungen nach 1945 in der DDR eine Kriegsbeute des II. Weltkrieges sahen und somit eine Handelsware für Übereinkünfte mit dem anderen großen Gewinner des II. Weltkriegs, den USA. Da die DDR- Führer dem ihren Lande übergestülpten Stalinschen Gesellschaftsmodell aber mehr Effektivität abgerungen hatten als die anderen unter sowjetischer Kuratel stehenden osteuropäischen Länder und die Sowjetunion selbst, wurde die DDR von den meisten sowjetischen Führern nach Stalins Tod jedoch auch gern als besonders enger Verbündeter geführt.

Diese widerspruchsgezeichnete Situation ihres Landes macht es Ex-DDR-Bürgern wie mir heute  verständlich, warum Ulbricht, der damalige starke Mann in der SED-Führung, 1952 auf der 2. Parteikonferenz der SED verkünden durfte, von Stalin genehmigt, in der DDR mit dem Aufbau von „Sozialismus“ beginnen zu wollen. Obwohl 1952, ein Jahr vor der Rebellion vom 17. Juni 1953, für solch ein anspruchsvolles Vorhaben die innenpolitische Lage in der DDR in keinerlei Weise zu sprechen schien. Wenn aber nach sowjetischem Vorbild in der DDR „Sozialismus“ errichtet wurde, musste es sich für die Eigner in Moskau schwieriger gestalten, in der DDR vorrangig politische Handelsware zu erblicken.

Hatte sich der alte Ulbricht nach  der gemauerten Grenzziehung mitten durch die deutsche Hauptstadt aus den ihn einengenden sowjetischen Bruderarmen ein wenig herauszuarbeiten versucht, die Kollektivierung der Landwirtschaft 1960 war ihm von Chruschtschow noch befohlen, das „Neue Ökonomische System“ 1963 nur noch genehmigt worden, hatte sich der späte Ulbricht von seinen Gesellschaftswissenschaftlern dazu eine relativ eigenständige Gesellschaftsformation „Entwickelter Sozialismus“ erfinden lassen, und war er gegenüber Breshnew zuletzt sogar ausgesprochen renitent geworden, als er dem erklärte, die DDR sei keine zusätzliche Sowjetrepublik, sondern ein eigenständiger sozialistischer Staat – so war Honecker, als er endlich von Breshnew auf Ulbrichts Thron geschoben worden war, sofort auf die ihm aus Moskau gewiesenen Pfade zurückgekehrt.. Bis ihm aus der Sowjetunion „empfohlen“ wurde, diese Pfade, vor allem zu mehr deutsch/deutscher Entspannung, wieder zu verlassen. Da hatte Honecker an ihnen aber schon Gefallen gefunden.

Wie sich die Beziehungen zwischen Ulbricht und Breshnew entwickelt hatten, zeigt auch eine Äußerung von Ulbrichts langjährigem Russisch-Dolmetscher Eberlein 1994 gegenüber dem  Dichter Hacks, „Breshnew habe gelogen, wenn er den Mund aufmachte.“ (Peter Hacks/Andre Müller sen.: Der Briefwechsel 1957 – 2003. Eulenspiegel Verlag 2023, S. 608)

Wie sehr Honecker in den frühen Jahren seiner Herrschaft die „unverbrüchliche Freundschaft“ zwischen der DDR und der Sowjetunion zelebrieren ließ, konnte ich als Angestellter des Kulturbundes der DDR auf einer von dieser Massenorganisation in der Staatsoper Unter den Linden veranstalteten „Manifestation der Intelligennz“ erleben. Die Manifestation wurde abgenommen von den in der ersten Reihe der Königsloge sitzenden SED-Politbüro-Mitgliedern Stoph und Sindermann resp. Vorsitzender des Ministerrates und Volkskammerpräsident – und dem zwischen beiden thronenden sowjetischen „Regierenden Botschafter“ Abrassimow.

Die unter Honecker neu aufbrechenden Konflikte zwischen der DDR und der Sowjetunion betrafen nach Krenz (und tatsächlich) vor allem die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen und die Deutschland-Politik. Im Austausch zwischen beiden Volkswirtschaften versuchten beide Seiten sich auf Kosten des Partners Vorteile zu verschaffen. Und da beide Volkswirtschaften in den 70ern und 80ern im weltweiten ökonomischen Wettbewerb schwächer wurden, wurden die Auseinandersetzungen um kleine oder größere Vorteile auf Kosten des Partners nicht geringer. Mit einer gründlichen Auflistung von Daten und einigen präzis rekapitulierten Erlebnissen mit sowjetischen Führern versucht Krenz, die Probleme der Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion auf dem Felde der Wirtschaft deutlich zu machen.

Auf außenpolitischem Gebiet war Honecker in der „Polen-Krise“ von 1980 noch ein enger Verbündeter von Breshnew gewesen. Krenz erzählt, wie er und andere SED-Funktionäre nach Polen geschickt werden, um dort in der kommunistischen Partei eine Fronde gegen den in Moskau und Ostberlin ungeliebten Parteichef Kania aufzubauen.

Ab 1983, als Krenz (Voll-)Mitglied im SED-Politbüro wird, verschlechtern sich die Beziehungen zwischen Ostberlin und Moskau rapide. Honecker will die erreichten Verbesserungen im Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten nicht den neuen Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. zwischen der Sowjetunion und dem Westen opfern. Vor allem von seinem Traum, in Bonn als Staatsoberhaupt des dort solange nicht akzeptierten zweiten deutschen Staates mit allen Würden und Ehren empfangen zu werden, will er nicht lassen. In dem Zuge, in dem sich die deutsch/deutschen Beziehungen freundlicher gestalten, wird Moskau gegenüber Honecker misstrauischer.  Mehrfach muss Honecker zu Canossa-Gängen in die Sowjetunion aufbrechen. Vor solch einer Reise, 1984, fürchtet Honecker sogar, von seinen sowjetischen Genossen, wie 1968 der tschechoslowakische Parteiführer Dubcek, in der Sowjetunion erst einmal einbehalten zu werden.

Honecker, dessen Ehrgeiz und Eitelkeit immer größer waren, als es ihm die Größe seines Landes eigentlich erlaubte, wird einige Zeit von Voraussetzungen unterstützt, die ihm sein selbstbewusstes politisches Spiel zu gestatten scheinen.

Da besitzt die sowjetische Führung in Honeckers SED-Politbüro zwar gründliche Informanten, aber sie findet niemanden, der eine Palastrevolution gegen Honecker anzuzetteln in der Lage wäre.  Dazu hat Honecker nach der Übernahme der Kanzlerschaft in Bonn durch Helmut Kohl zusätzlich zu dem großen Politikdreieck Ostberlin-Moskau-Bonn noch ein kleines Politikdreieck Ostberlin-Bonn-München gefunden, das ihm einige weitere deutsch/deutsche politische Schachzüge erlaubt. Bei all diesem selbständigen Agieren weiß Honecker natürlich immer um den sowjetischen Atomschirm über der DDR, so dass kein gewichtiger Bonner Politiker auf ein baldiges Ende des zweiten deutschen Staates hoffen kann.

Wie nahe sich im Zuge der deutsch/deutschen Entspannung die beiden dafür wichtigsten deutschen Politiker gekommen waren, bezeugt Krenz mit seiner Erzählung von einem Telefonanruf Kohls bei Honecker, bei dem er zuhören darf.  Da das Gespräch über die normale Post-Telefonverbindung von Bonn nach Ostberlin verlaufen war, macht es verständlich, warum Kohl nach 1990 seine Stasi-Akte nicht freigeben wollte. Er hatte sich im telefonischen Umgang mit dem nach 1990 in Deutschland verfemten Ex-DDR-Staatsmann.sicher eines höflichen Umgangstons befleißigt.

(Auf S. 169 überrascht der ansonsten auf Gründlichkeit bedachte Autor mit einem Fehler: Mitte der fünfziger Jahre hieß der sowjetische Botschafter in der DDR Puschkin. Perwuchin wurde erst 1958 dessen Nachfolger.)

Für die besten Jahre seines Staates, und das waren nicht nur seiner Meinung nach die siebziger, bescheinigt sich Krenz ein engeres Vertrauensverhältnis zu seinem Volk. Als Mensch aus diesem Volk, zu DDR-Zeiten durchgängig parteilos gewesen, stets aber auch mit guten Freunden in der SED, und mit kritischen Geistern in der Staatspartei auch regelmäßig Möglichkeiten eines verbesserten Sozialismus in der DDR diskutierend, wusste ich auch in den besseren Jahren der DDR um die Ursachen dafür, dass sich in größeren Teilen des DDR-Volkes ein engeres Vertrauensverhältnis zur SED-Führung nicht aufbauen wollte.

Da war das vom ersten bis zum letzten Tage der SED-Herrschaft Menschen mit Verstand beleidigende Informationswesen. Krenz selbst bringt einige prominente Beispiele. Da erlebte man die – von den Jahren des „Neuen Kurses“ nach 1953 und des „Neuen Ökonomischen Systems“ nach 1963 abgesehen – stets humpelnde Wirtschaftspolitik. Da war die permanente Verärgerung über die immer weiter verfallende baulich und kulturell wertvolle Altbausubstanz. Dahin gehörten die unter Honecker gegenüber Ulbricht noch forcierte Bevorzugung von Parteibuchinhabern bei der Besetzung besser bezahlter Stellen und die Erster-Mai-Prozessionen unter den überdimensionierten Ikonen der Heiligen Marx, Engels, Lenin (und anfangs auch noch Stalin) sowie den gerade an der Macht befindlichen Parteifürsten. Und last but not least gehört in diese Aufzählung natürlich auch der Umgang mit den sogenannten Dissidenten.

Als mir mein kommunistischer Stiefvater, der nie eine Parteischule besucht hatte, 1956, nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, beibringen wollte, dass der Stalinsche Sozialismus nicht zu Deutschland passe, wollte ich ihm noch nicht folgen. 1962 aber, nach zwei Jahren Transportarbeiter in einem Leipziger Großbetrieb, der Lektüre der ersten verbotenen Bücher und einem Familienbesuch im Frühjahr 1961 im wirtschaftlich boomenden Westdeutschland, hatte ich mich für den Rest meines DDR-Daseins seiner Meinung angeschlossen  Später, als Student,  begriff ich zusätzlich, warum ich zum „Abweichler“ werden musste: Der Schöpfer des „Realsozialismus“, Stalin, hatte seine  politischen Erfahrungen nicht im mehr oder minder entwickelten kapitalistischen und bürgerlich-demokratischen Westeuropa gemacht, sondern im gesellschaftlich zurück gebliebenen ehemaligen Zarenreich: einem Reich mit einem Alleinherrscher an der Staatsspitze und einer dogmengeprägten Staatskirche und einer mächtigen Geheimpolizei als wichtigen Gehilfen an seiner Seite. Und auch sein politischer bzw. ideologischer Lehrmeister Lenin hatte Stalin nie eine „Gewaltenteilung“ als Grundlage für eine moderne politische Praxis vorgegeben. Und bei Krenz habe ich durchgängig das Gefühl, wenn er über Marxismus spricht, dass er weder die „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion“ noch die „Debatten über Preßfreiheit“ von Marx gelesen hat.

Krenz benennt Entscheidungen Honeckers, des SED-Politbüros, also auch von ihm selbst, die nach seiner heutigen Sicht Fehler waren. Zu diesen Fehlern zählt er mittlerweile die Ausbürgerung Biermanns: ursprünglich ein Alleingang Honeckers. In der Wiedergabe der Politbüro-Sitzung, die der Ausbürgerung folgte, macht Krenz unabsichtlich auf einen weiteren Lapsus Honeckers aufmerksam. Honecker erzählt seinem Politbüro, dass Biermann nach seinem Umzug von Hamburg nach Ostberlin 1953 bei keiner DDR-Behörde die Staatsbürgerschaft der DDR beantragt habe. Niemandem in Honeckers Politbüro fällt in diesem Moment ein, dass es 1953 in der DDR noch keine eigene Staatsbürgerschaft gegeben hatte, sondern in der Rubrik „Staatsbürgerschaft“ in allen amtlichen Dokumenten der DDR 1953 noch „deutsch“ gestanden hatte, Und die wichtigste politische Forderung aus Ostberlin in Richtung Bonn auch nicht die nach der Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft war, sondern „Deutsche an einen Tisch“ hieß.

Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland war ein prominentes Debattenthema der westdeutsch dominierten deutschen Historikerschaft der sogenannte Diktaturenvergleich: Die SED-Diktatur in der DDR wurde – vor allem in den Formen der Machtausübung – mit der NS-Diktatur im Deutschen Reich verglichen. Krenz Nachweis der eingeschränkten Souveränität der DDR hat m. E. o.g. Vergleich endgültig obsolet gemacht. Ohne dass dies zu seinen Absichten gehört, regt Krenz für mich aber zwei andere Vergleiche an: zum einen den zwischen der DDR und ihrer Vormacht bzw. ihrem Vorbild Sowjetunion, und dann einen zwischen den unterschiedlichen nationalen Ausprägungen des nach 1944 den später sogenannten „Volksdemokratien“ Osteuropas übergestülpten sowjetischen Gesellschaftsmodells.

Einen weiteren fragwürdigen Blick aus Westdeutschland auf die DDR-Geschichte brachte der fünfzigste Jahrestag des Mauerbaus in Berlin. Bis zur Entdeckung des betreffenden Beschlusses im Moskauer Politbüro-Archiv durch einen jüngeren westdeutschen Historiker glaubten nicht wenige westdeutsche Historiker, der Mauerbau sei vor allem eine Sache Ulbrichts gewesen. Dazu kamen die Journalisten, die nach dem Mauerbau scheinbar zu Recht meinten, die von Ulbricht wenige Wochen vor dem Mauerbau auf einer internationalen Pressekonferenz gemachte Äußerung, niemand wolle eine Mauer errichten, eine Lüge gewesen sei. Diese Journalisten vergaßen, dass  einige Wochen früher Chruschtschow – mit der Stärke der Sputnik-Rakete im Rücken – in einer diplomatischen  Note dem Westen, d.h. den USA, vorgeschlagen hatte, die Westsektoren Berlins in eine neue politische Einheit „Freie Stadt“ umzuwandeln, mit einer Abwicklung von derem zivilen Flugverkehr über DDR-kontrollierte Flughäfen.. Hätten die USA in dieser Weise in Berlin kapituliert, hätte Chruschtschow nicht nach seinem Plan B zur Schließung des Loches in seiner Westgrenze greifen müssen. Wie sehr der Mauerbau ur-sowjetische Interessen bedient hatte, zeigt Krenz in seinem Kapitel „Spaziergang mit Gromyko“.

Für die Hegemonie der Sowjetunion über Osteuropa sind noch zwei weitere Erzählungen für mich wichtig, die ich andernorts hören durfte. Noch zu DDR-Zeiten berichtete mir ein berenteter Ex-Botschafter der DDR, dass der damalige polnische Parteichef Gomulka auf einer Konferenz seiner Partei in der Polnischen Akademie der Wissenschaften gefragt worden wäre, warum er dies oder jenes nicht tue. Er würde mit dem entsprechenden Handeln im Volk sicher Pluspunkte sammeln. Die Antwort Gomulkas sei knapp und klar gewesen. Unser großes Nachbarland heißt nicht Australien. Und ein Außenminister des Nach-1991-Runänien erzählte vor Jahren in seiner Berliner Botschaft, dass nach 1990 in den rumänischen Archiven der Macht eine Anfrage von Ceausescu bei Tito gefunden worden wäre, ob er im Falle einer „brüderlichen Hilfsaktion“ der Sowjetunion in Rumänien ähnlich der von 1968 in der Tschechoslowakei in Jugoslawien Asyl erhalten würde..

Trotz eines widerspruchsgezeichneten Urteils bin ich sicher nicht der einzige Leser des vorliegenden Bandes, der mit Neugierde auf den Folgetext wartet. Die detaillierte Sicht auf Honeckers endgültiges Scheitern, aber auch den eigenen zu späten und zu unbeholfenen Versuch, die DDR und eine modifizierte Form der SED-Herrschaft über sie zu retten, stellen allerdings noch höhere Anforderungen an den Autor und sein selbstkritisches Vermögen als schon der vorliegende Band II.

Bei vorrangig zwei Themen ist mein Wissensbegehr besonders groß:

  • Krenz‘ Darstellung des Untergangs seiner Partei
  • seinem Blick auf das soziale Erbe der „sozialistischen“ DDR.

Bei ersterem Thema muss Krenz eine Erklärung versuchen, warum die bis dato Herrschaftspartei SED mit 2,2 Millionen Mitgliedern – und diese Mitglieder per Parteilehrjahr sowie die Funktionäre zusätzlich über eine Hierarchie von Parteischulen mit Ideologie vollgepumpt – innerhalb weniger Monate zu einem Restbestand zusammenschmolz, der dazu noch nicht einmal den Namen der Partei behalten wollte.

Im Frühjahr 1990, als die Menschen in der DDR immer zahlreicher wurden, die per Übernahme von Währung und Pass ganz rasch Westdeutsche werden wollten, überraschte mich, dass die DDR-Frauen nicht en masse auf die Straße gingen, um für die Beibehaltung ihres Rechts zu demonstrieren, über Schwangerschaften oder deren Abbruch in völliger Freiheit allein zu entscheiden. Gingen sie für diese Freiheit nicht auf die Straße, weil sie ihnen von der Diktatur geschenkt worden war?

Jahre nach dem Beitritt erzählte mir der frühere SPD-Vorsitzende Jochen Vogel, dass er sich im Einigungsprozess an Bundeskanzler Helmut Kohl gewandt habe, das vereinigte Deutschland dürfe den ostdeutschen Frauen ihr Recht auf eine selbst bestimmte Abtreibung nicht wieder nehmen. Und so kam es dann, dass Abtreibung heute in Deutschland wie in der Alt-Bundesrepublik verboten ist und wie in der DDR praktiziert werden darf. Und unverbesserliche „Ossis“ darauf beharren können, dass in der DDR doch nicht alles schlecht gewesen sei.

Dieter Winkler, Berlin